Potenzielle Schwerbehinderung des ungeborenen Kindes: Arzthaftung bei fehlender Aufklärung einer Schwangeren

Muss ein Arzt Schadenersatz leisten, wenn er eine Schwangere nicht ausreichend über die Befunde einer pränatalen Untersuchung informiert und die Frau deshalb einen möglichen Schwangerschaftsabbruch unterlässt? Die Frage, ob ein Kind juristisch als „Schaden“ qualifiziert werden kann, beschäftigt die Rechtsprechung schon lange. Meist geht es in solchen Fällen um eine ungewollte Schwangerschaft. Oder um die Geburt eines behinderten Kindes, der eine unzureichende pränatale Diagnostik bzw. Aufklärung der Eltern vorausging. So war es auch in einem Fall, den jetzt der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden hatte. Konkret ging es um eine Frau und deren dritte Schwangerschaft. Nach der Geburt eines gesunden Kindes im Jahr 2005 hatte sie eine weitere Schwangerschaft abgebrochen, nachdem bei ihrem ungeborenen Kind das sog. Turner-Syndrom diagnostiziert worden war.

Verharmlosung des tatsächlichen Risikos

Als die Frau zum dritten Mal schwanger wurde, stellte ihr Arzt (deutlich nach Ablauf der zwölften Schwangerschaftswoche) fest, dass das Ungeborene eine erweiterte Hirnwasserkammer hat. Ein deshalb angefertigtes MRT zeigte im Gehirn des Fötus unter anderem eine komplexe Mittellinienstörung mit Hydrozephalus. Die Befunde wurden der Frau auch mitgeteilt, ebenso die Tatsache, dass ihr Kind möglicherweise „motorisch-kognitive Beeinträchtigungen“ haben könnte. Nach der Geburt stellte sich heraus, dass das Neugeborene eine seltene Fehlbildung des Gehirns aufweist. Der Defekt führt unter anderem zu einer schweren Fehlgestaltung der Augen. Auch wird das Kind nie Laufen, Krabbeln, Sprechen und Greifen lernen. Zudem leidet es an einer nicht therapierbaren Form der Epilepsie. Da die bei der pränatalen Untersuchung erkennbaren Fehlbildungen des Gehirns nach Aussage eines Sachverständigen mit einer Wahrscheinlichkeit von zwölf Prozent zu den Behinderungen des Kindes geführt haben, verlangten die Eltern Schadenersatz und Schmerzensgeld sowie Betreuungsunterhalt für das Kind. Ihr Argument: Die Ärzte hätten den MRT-Befund zwar mit beiden Elternteilen besprochen, diese aber nicht ausreichend auf das Risiko einer schweren Behinderung hingewiesen. Diese sei sich nicht nur für das Kind selbst, sondern auch für die Eltern als immense Belastung. Die Mutter des Kindes leidet seit dem Geburtsschaden unter Depressionen sowie einer Anpassungs- und Schlafstörung. Sie gab im Verfahren an, sie hätte sich bei Kenntnis einer möglichen Behinderung des Kindes für einen Abbruch der Schwangerschaft entschieden – und verwies als Indiz dafür den ähnlich gelagerten Sachverhalt bei ihrer zweiten Schwangerschaft.

Wann überwiegen die Rechte der Mutter die des ungeborenen Kindes?

In erster Instanz hatten die Eltern mit ihrem Vorbringen keinen Erfolg. Die zweite Instanz hingegen hab ihnen überwiegend Recht. Und auch der Bundesgerichtshof erkannte im Verhalten der Ärzte eine Verletzung der vertraglichen Pflicht zur pränatalen Beratung der werdenden Mutter (BGH; Az. VI ZR 295/20). Demnach hätte der behandelnde Arzt die Frau bei der Besprechung des MRT-Befunds auf die Möglichkeit einer schweren Behinderung hinweisen müssen. Nach Auffassung des BGH können jedoch die bisher getroffenen Feststellungen nicht begründen, ob der Schwangerschaftsabbruch, den die Frau in diesem Fall hätte vornehmen lassen, auch rechtmäßig gewesen wäre. Das aber ist laut BGH Voraussetzung für einen Schadenersatzanspruch der Eltern. Nach § 218a Abs. 2 StGB ist der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch (…) in der Lage ist, eine schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abzuwenden ist. Der BGH hat daher das Urteil der Vorinstanz aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Kommentar von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht:

Mit dem vorliegenden Urteil hat der BGH klargestellt, dass eine Arzthaftung in Betracht kommt, wenn eine Frau wegen einer unzureichenden Beratung in der Schwangerschaft ein schwerbehindertes Kind zur Welt bringt und sie sich bei einer ordnungsgemäßen Beratung für einen (rechtmäßigen) Schwangerschaftsabbruch entschieden hätte. Jedoch muss die Mutter im Schadensersatzprozess darlegen und beweisen, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Schwangerschaftsabbruch wegen medizinischer Indikation bei fehlerfreier Beratung vorgelegen hätten.

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Wie die Aussichten in Ihrem konkreten Fall stehen, kann ein Patientenanwalt mit genauen Kenntnissen im Arzthaftungsrecht beurteilen. Rechtsanwalt Jürgen Wahl ist Fachanwalt für Medizinrecht und Fachanwalt für Versicherungsrecht. Sie erreichen ihn unter der Telefonnummer 069 / 82 37 66 42 oder per E-Mail unter recht@arzthaftung-offenbach.de