Wrongful birth: Arzt klärt nicht über Risiko einer Behinderung des ungeborenen Kindes auf
Wenn Ärzte eine werdende Mutter nicht über das Risiko einer schweren Behinderung ihres Kindes hinweisen, obwohl die bildgebende Diagnostik einen solchen Hinweist zulässt, sind Ärzte schadenersatzpflichtig, wenn die Mutter das Kind sonst nicht bekommen hätte. Das OLG Karlsruhe hat der Mutter 20.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, sowie die Übernahme der Mehrkosten für die aufwendige Pflege des Kindes, Az. 7 U 139/16.
Erste Schwangerschaft: Abbruch wegen Turner-Syndrom – Der Sachverhalt
2010 stellten die Ärzte eines Krankenhauses bei einer schwangeren Frau fest, dass deren Kind an dem sog. Turner-Syndrom leide. Das Turner-Syndrom tritt nur bei Mädchen auf und die Ausprägungen der Symptome können vielfältig sein. Meistens ist lediglich die körperliche Entwicklung des Kindes betroffen. Lebenserwartung und Intelligenz der Frauen mit dem Turner-Syndrom ist nicht herabgesetzt, sondern entspricht dem Durchschnitt. Aufgrund dieser Diagnose brachen die Eltern die Schwangerschaft ab.
Zweite Schwangerschaft: ungeborenes Kind leidet an Balkenagenesie
2011 war die Frau erneut schwanger und lies im gleichen Krankenhaus das ungeborene Kind auf eventuelle Fehlbildungen gesondert untersuchen. In einer durchgeführten MRT-Untersuchung zeigte sich, dass das Kind unter einer sog. Balkenagenesie (Corpus-callosum-Agenesie) leiden wird. Dabei handelt es sich um Fehlbildung des Gehirns, bei der die Verbindungen zwischen der rechten und linken Hirnhälfte fehlt oder stark unterentwickelt ist. Die Bandbreite der Entwicklungen von Kindern mit Balkenagenesie ist groß. In einigen Fällen leiden die Kindern lediglich an unwillkürlichen Bewegungen sowie einer körperlichen und auch geistigen Entwicklungsverzögerung. Die Balkenagenesie kann jedoch auch Symptom eines speziellen Syndroms mit noch weitreichenden Folgen sein. Prognostisch kann die Balkenagenesie jedoch zu schweren körperlichen und kognitiven Behinderungen führen.
Exkurs: Wrongful birth: Die Geburt eines „so nicht gewollten Kindes“
Als wrongful birth bezeichnet man in anglo-amerikanischen Rechtssystemen die Geburt eines Kindes, welches entweder nicht gewollt war oder „so nicht“ gewollt war. Was in diesen Fällen vielleicht sehr lebensverachtend klingen mag, ist lediglich ein rechtstechnischer Begriff einer Fallgruppe aus dem Haftungsrecht.
Hier unterscheiden Juristen in drei Fallgruppen:
- eine Sterilisation scheitert
- ein Schwangerschaftsabbruch scheitert
- durch eine fehlerhafte oder unterlassene medizinische Beratung zu einer möglichen Schädigung des Kindes, wird das Kind geboren, obwohl es von den Eltern „so nicht gewollt“ war oder dessen Geburt ihnen nicht zumutbar ist
In allen drei Fällen wird nicht das Leben an sich als "wrongful" gewertet, sondern die Eltern wollten entweder keine Kinder, aus persönlichen Gründen momentan kein Kind oder die Schwangerschaft und Geburt stellt für die Mutter ein physisches oder psychisches Risiko dar. Machen die Ärzte also Fehler oder klären nicht genügend auf, so soll dies eine Haftung auslösen, z.B. für Unterhaltskosten oder einen erhöhten Pflegeaufwand.
Ärzte weisen Eltern nicht auf mögliche Behinderung hin
Trotz dessen, dass bei der MRT-Untersuchung die Balkenagenesie von den Ärzten erkannt wurde, unterblieb ein Hinweis an die Eltern. Den behandelnden Ärzten hätte hier aber klar sein müssen und sie hätten besonders darauf reagieren müssen, dass es der Wunsch der Eltern war, eine schwere Schädigung ihres ungeborenen Kindes auszuschließen. Zum einen waren es die Ärzte des gleichen Krankenhauses, die schon bei der ersten Schwangerschaft eine schwere Beeinträchtigung diagnostiziert hatten. Zum anderen begab sich die Mutter explizit zur Abklärung möglicher Schädigungen in das selbige Krankenhaus.
Das Kind kam mit schwersten Behinderungen zur Welt. So kann das Kind nicht schlucken, ist blind, kann weder laufen noch greifen und leidet an einer therapieresistenten Epilepsie. Aufgrund dieses gesundheitlichen Zustandes ist die Pflege des Kindes sehr aufwändig und damit mit einem hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand verbunden. Durch die belastende Situation des Kindes und seiner Pflege, leidet die Mutter an schwerwiegenden psychischen Folgen. Die Eltern verlangten vor dem Landgericht Mannheim in erster Instanz für die psychischen Folgen der Mutter und den hohen Pflegeaufwand des Kindes von den behandelnden Ärzten Schadenersatz und Schmerzensgeld. Das Landgericht lehnte in erster Instanz die Klage ab, da kein Aufklärungs- oder
Behandlungsfehler erkannt wurde.
OLG Karlsruhe: Ärzte haften für unterlassene Aufklärung
Das OLG Karlsruhe (Az. 7 U 139/16) sprach den Eltern nun 20.000 Euro Schmerzensgeld für die psychischen Folgen der Mutter zu. Außerdem sind die Ärzte verpflichtet einen großen Anteil an dem erhöhten Bedarf des Kindesunterhaltes und des Pflegemehraufwandes zu tragen. Schon aus den Pflichten des Behandlungsvertrages waren die behandelnden Ärzte verpflichtet die Eltern über das mögliche Ausmaß der Beeinträchtigungen vollumfänglich aufzuklären, da es Ziel der Behandlung war frühzeitig mögliche Schädigungen des Kindes zu diagnostizieren.
Medizinische Indikation für Schwangerschaftsabbruch lag vor
Die Ärzte durften zwar darauf hinweisen, dass die Diagnose einer Balkenagenesie nicht sicher zu einer schweren Schädigung führt. Kinder mit einer diagnostizierten Balkenagenesie kommen in der Mehrzahl aller Fälle ohne Beeinträchtigungen zur Welt. Deshalb durften die Ärzte die Information über das Risiko einer schweren Beeinträchtigung aber auch nicht verschweigen. Wären die Eltern über das Risiko informiert gewesen, hätten sie die Schwangerschaft abgebrochen. Aufgrund der außergewöhnlich schweren gesundheitlichen Folgen für die Mutter wäre ein Schwangerschaftsabbruch auch aus medizinischer Indikation heraus (gem. § 218a Abs. 2 StGB) möglich gewesen, da die Folgen einer Schwangerschaft der Mutter in diesem Fall nicht zumutbar gewesen wären.
Was der Fachanwalt dazu sagt
Kann ein Kind ein Schaden sein? Aus rechtlicher Sicht kann man diese Frage manchmal, wie in diesem Fall, mit ja beantworten. Unter den Fallgruppen „wrongful birth“ und „wrongful life“ gibt es einige Entscheidungen, auch in Deutschland, die ein „so nicht gewolltes“ Leben oder ein „nicht gewolltes“ oder „nicht so gewolltes“ Kind als Schadensereignis sehen. Dabei ist das Leben an sich nicht der Schaden, aber eventuell der Eintritt von finanziellen Aufwendungen. Wollte ein Patient z.B. keine lebensverlängernden Maßnahmen und wurde er doch reanimiert, so kann sein Leben danach ein Schaden sein – wenn er z.B. pflegebedürftig ist und hierfür Aufwendungen anfallen. In solchen Fällen kann ein Leben somit auch ein Schaden sein („wrongful life“).
Wrongful birth – eine Frage der Belastungsfähigkeit der Eltern
Bei der Frage, ob Eltern ein Kind mit schweren Beeinträchtigungen bekommen wollen, kommt es sicherlich auf die individuelle Situation der Eltern und deren gesundheitliche und psychische Belastbarkeit an. In dem vorliegenden Fall hat ein psychiatrischer Gutachter festgestellt, dass der Mutter die Geburt des Kindes eben nicht zumutbar gewesen war. Kommt ein Kind jedoch mit solchen schweren Beeinträchtigungen, die vorhersehbar waren, zur Welt, bedeutet das für die Eltern jedoch vor allem eine hohe Belastung. Der Arzt, der dies hätte vermeiden können, so sagt der BGH, soll sich deshalb auch an den finanziellen Aufwendungen beteiligen.
Haben Sie Fragen zu Geburtsschäden ihrs Kindes? Oder zur ärztlichen Aufklärung rund um eine Schwangerschaft?
Die richtige Adresse für solche Fragen ist ein Fachanwalt. Rechtsanwalt Jürgen Wahl ist
Fachanwalt für Medizinrecht und Fachanwalt für Versicherungsrecht. Er kennt sich im Arzthaftungsrecht bestens aus und sorgt dafür, dass Sie Ihr Recht durchsetzen. Sie erreichen ihn unter der Telefonnummer 069 / 82 37 66 42 oder per E-Mail unter recht@arzthaftung-offenbach.de.