Arzthaftung: Jeder Kreißsaal braucht eine Klingel

Ein Baby erleidet kurz nach der Geburt einen schweren Hirnschaden –nicht wegen eines ärztlichen Fehlers, sondern weil der Kreißsaal nicht ausreichend ausgestattet war. Haften muss die Klinik wohl trotzdem.
Trotz des immensen medizinischen Fortschritts sind Geburten nach wie vor mit Risiken für Mutter und Kind verbunden – und die Gerichte müssen sich regelmäßig mit Haftungsfragen auseinandersetzen. Fehler passieren dabei auf den unterschiedlichsten Ebenen, wie ein aktuelles Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Celle beweist (Az.: 1 U 32/20).
Konkret ging es um einen Fall, der sich in einem Krankenhaus in Hannover ereignet hatte. Eine Frau hatte dort bei einer im wesentlichen komplikationslose Geburt ein Kind zur Welt gebracht. Die Hebamme legte ihr daraufhin das Baby auf die Brust und ließ die beiden allein. Dieses sogenannte Bonding soll die Bindung zwischen der Mutter und dem Neugeborenen stärken.
Schon kurz nachdem die Hebamme den Kreißsaal verlassen hatte, hatte die Frau jedoch, nach eigenen Angaben, das Gefühl, ihr Baby sei „zu ruhig“. Nachdem sie anfangs noch gedacht habe, dass es vielleicht schlafe, habe sie sich doch gewundert, dass es sich gar nicht rege. Da sie so kurz nach der Geburt noch nicht habe aufstehen können, habe sie klingeln wollen, damit jemand das Baby untersuche. An ihrem Bett gab es aber keine Klingel.
Der Hebamme fiel der ungewöhnliche Zustand des Kindes daher erst rund 15 Minuten später auf. Zu diesem Zeitpunkt litt das Neugeborene bereits unter einer Atemdepression („Fast-Kindstod“). Trotz unverzüglicher Behandlung und Reanimation führte dies zu einer schweren Hirnschädigung.

Für Notfälle braucht es eine Alarmfunktion

Das heute acht Jahre alte Kind verlangt – vertreten durch seine Eltern – von dem Krankenhaus und der Hebamme aufgrund der verbleibenden Gesundheitsschäden ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro sowie den Ersatz materieller Schäden. Das Landgericht Hannover hat der Klage dem Grunde nach stattgegeben.
Auch die Berufungsinstanz entschied zugunsten des Kindes (Az.: 1 U 32/20): Eine Mutter müsse kurz nach der Geburt die Möglichkeit haben, eine Hebamme zu alarmieren, ohne dafür das Bett verlassen zu müssen. Dass eine solche Alarmierungsmöglichkeit vorliegend fehlte, sei als grober Behandlungsfehler zu bewerten, der einem Arzt bzw. einer Hebamme schlechterdings nicht unterlaufen dürfe.

Warten auf die Entscheidung aus Karlsruhe

Das Krankenhaus und die Hebamme haften nach Meinung des OLG Celle deshalb, auch wenn sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen lasse, dass eine frühere Alarmierung die Hirnschädigung tatsächlich verhindert hätte oder diese geringer ausgefallen wäre.
Da der Senat die Revision nicht zuließ, hat das Krankenhaus sich mit einer Beschwerde an den Bundesgerichtshof gewandt. Über diese ist noch nicht entschieden.

Kommentar von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht in Offenbach:

Unabhängig vom weiteren Ausgang des Verfahrens bleibt zu hoffen, dass die Krankenhäuser auf den Fall reagieren und Maßnahmen treffen, die eine adäquate Versorgung von Mutter und Kind direkt nach der Geburt sicherstellen.