75.000 Euro Schmerzensgeld: Aufklärung auch über alternative Therapien

Ist ein operativer Eingriff nur relativ indiziert, muss der Arzt bei der Aufklärung nicht nur über den operativen Eingriff aufklären, sondern auch über Alternativen zur geplanten Operation. Weil bei einer relativen Indikation die Operation gerade nicht das letzte Mittel ist, verletzt eine unterlassene Aufklärung die Aufklärungspflicht des Arztes. Das OLG Hamm sprach dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 75.000 Euro zu und verurteile den Belegarzt zum Ersatz der materiellen Schäden, Az. 26 U 3/14.

Patient leidet mehr als 20 Jahre an Rückenschmerzen – Der Sachverhalt

2010 stellt sich der Patient in einem Krankenhaus bei einem Belegarzt vor. Der Patient litt schon zu diesem Zeitpunkt seit mehr als 20 Jahren an Rückenschmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, gegen die bisher keine Therapie half. Bei dem stationären Aufenthalt in dem Krankenhaus wurden verschiedene Untersuchungen durchgeführt und weitere konservative Therapien unternommen. Aber auch dies half nichts.

Belegarzt rät zur Operation

Der Belegarzt empfahl dem Patienten nach einigen Gesprächen eine Operation, bei der der verengte Wirbelkanal versorgt werden sollte. Im August 2010 wurde dann eine Diskektomie (Abtragung von Material der Bandscheibe), eine Dekompression (Reduktion des Drucks), eine Neurolyse (Beseitigung von Druck auf bestimmte Nerven) sowie eine Spondylodese durchgeführt. Bei der Operation fiel ein kleinerer Defekt der das Rückenmark umgebenden Haut (Dura) auf, welche vom Belegarzt mit Fibrinkleber verschlossen wurde.

Inkomplette Kaudalähmung und depressive Störung – Patient ist auf Rollstuhl angewiesen

Nach der Operation stellten sich bei dem Patienten einige neurologische Ausfälle ein. Er konnte das gestreckte Bein nicht mehr anheben und es zeigten sich Lähmungen beim Heben und Senken der Füße, eine Blasenentleerungsstörung und eine Störung der Sexualfunktion. Zwar bildete sich nach zwei weiteren Operationen, bei denen u.a. Blutergüsse am Rückenmark entfernt wurden, die Blasenentleerungsstörung zurück, jedoch blieb der Patient auf den Rollstuhl angewiesen. Er kann nur sehr kurze Strecken mit Gehilfen überhaupt zu Fuß zurücklegen. Aufgrund der eingeschränkten Mobilität und der chronischen Beschwerden entwickelte sich bei dem Patienten eine depressive Störung.

Kläger fordert 200.000 Euro Schmerzensgeld für die gesundheitlichen Einschränkungen

In der ersten Instanz forderte der Kläger von dem beklagten Belegarzt ein Schmerzensgeld in Höhe von 200.000 Euro und als Ersatz der materiellen Schäden ca. 34.000 Euro. Das Landgericht Arnsberg wies die Klage jedoch ab, da der Kläger nicht bewiesen habe, dass die Behandlung fehlerhaft war. Das Landgericht sah die Durchführung der Operation als "lege artis" (also nach allen Regeln der ärztlichen Kunst) an und konnte keinen Fehler erkennen. Die Verletzung des Rückenmarks sei zwar schicksalshaft gewesen, jedoch ein typisches Risiko bei einer solchen Operation. Auch die Aufklärung über den Ablauf und die Risiken der Operation, über alternative Behandlungsmethoden und über ein erhöhtes Operationsrisiko durch eine bereits 2006 stattgefundene Operation an ähnlicher Stelle sei nicht zu beanstanden.

OLG Hamm: Aufklärungsfehler und Operationsfolgen rechtfertigen 75.000 Euro Schmerzensgeld

Das OLG Hamm entschied jedoch anders und hob das Urteil auf. Wegen der fehlerhaften Aufklärung und den weitreichenden Folgen der Operation muss der Belegarzt an den Kläger 75.000 Euro Schmerzensgeld zahlen und die materiellen Schäden ersetzen. Der beklagte Belegarzt hätte in diesem Fall bei der nur relativen Indikation intensiver und mehr über weitere Behandlungsalternativen aufklären müssen. Zwar steht laut den Richtern des OLG Hamm dem Arzt die Wahl der Behandlungsmethoden zu, aber der Patient muss gründlich aufgeklärt werden, damit er alle möglichen Behandlungsalternativen, deren Abläufe und sich daraus resultierende Risiken und Chancen kennt. Da der Kläger auch ohne Operation mit anderen Behandlungsmethoden hätte weiter behandelt werden können, hat der Beklagte nicht genügend aufgeklärt. Die Einwilligung, die der Kläger zur Operation gab, war damit nicht wirksam.

Exkurs: Was heißt relative Indikation?

Bei der Notwendigkeit von ärztlichen oder medizinischen Behandlungen kann zwischen einer relativen und einer absoluten Indikation unterschieden werden. Indikation bedeutet, ob ein Krankheitsverlauf oder eine Krankheit eine bestimmte Behandlung notwendig macht. Bei einer absoluten Indikation besteht eine zwingende Notwendigkeit die geplante Maßnahme durchzuführen um negative Auswirkungen auf die Gesundheit des Patienten abzuwenden oder mindestens gering zu halten. Bei einer nur relativen Indikation bestehen zur Heilung verschiedene Möglichkeiten bzw. die geplante Maßnahme ist eben nicht zwingend notwendig, sondern nur vorteilhaft. Da bei der relativen Indikation also Alternativen bestehen, muss der Arzt hier viel genauer und ausführlicher dem Patienten erklären, welche Chancen und Risiken die einzelnen Alterativen bieten. Gerade wenn neben Operationen solche Alternativen bestehen, die eben keinen Eingriff in den Körper nötig machen (nicht invasiv sind), muss der Arzt darüber ausführlich aufklären.

Vor der OP keine neurologischen Ausfälle – relative Indikation

Da der Kläger vor der schicksalhaften Operation keine neurologischen Ausfälle zu beklagen hatte, lag auch keine absolute Indikation vor. Ohne größere Not hätte man mit der Operation noch warten können und vorher weitere konservative Therapiealternativen probieren können. Ob der beklagte Arzt auch einen Behandlungsfehler begangen hat, lies das OLG Hamm offen. Da aber eine Haftung durch die fehlerhafte Aufklärung des Arztes schon gegeben war und die Operation nachweislich den Zustand des Klägers ausgelöst hat, konnte die Frage nach einem Behandlungsfehler offenbleiben.

Was der Fachanwalt dazu sagt

Die Aufklärung vor Operationen durch einen Arzt ist in jedem Fall wichtig. Bestehen anstatt einer Operation noch Alternativen, welche zu einer Verbesserung der Beschwerden führen, muss der Arzt auch darüber sprechen. Behandlungen und Maßnahmen, die nicht invasiv sind, also keine Operation notwendig machen, sind vor einer Operation auszuschöpfen. Eine Operation muss daher entweder absolut alternativlos sein oder der Patient muss im Bilde darüber sein, dass es echte Behandlungsalternativen gibt. Deshalb lassen Sie sich als Patient nicht zu Operationen drängen und verlangen sie eine umfassende und ausführliche Erklärung und Aufklärung. Lassen Sie sich lieber etwas Zeit um in Ruhe über eine Operation nachdenken zu können.

Haben Sie Fragen zur Aufklärung vor Operationen? Oder zu Behandlungsfehlern?

Die richtige Adresse für solche Fragen ist ein Fachanwalt. Rechtsanwalt Jürgen Wahl ist Fachanwalt für Medizinrecht und Fachanwalt für Versicherungsrecht. Er kennt sich im Arzthaftungsrecht bestens aus und sorgt dafür, dass Sie Ihr Recht durchsetzen. Sie erreichen ihn unter der Telefonnummer 069 / 82 37 66 42 oder per E-Mail unter recht@arzthaftung-offenbach.de.