Unterlassener Hörtest als grober Befundungsfehler
Nachdem sie plötzlich nicht mehr richtig hören kann, sucht eine Frau ihren Hausarzt auf, der sie zu einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO-Arzt) überweist. Die Patientin stellt sich daraufhin in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) vor. Die dort angestellte Fachärztin diagnostiziert eine Tubenbelüftungsstörung, veranlasst aber keine weiteren Maßnahmen. Insbesondere führt sie keinen Hörtest durch.
Wenige Tage später verschlechtert sich das Hörvermögen der Patientin rapide, sie leidet bis heute an einer ausgeprägten Innenohrschwerhörigkeit. Da sie diesen Verlauf auf den unterlassenen Hörtest zurückführt, klagt die Frau auf Schadenersatz und Schmerzensgeld.
Erste Instanz entscheidet zugunsten des Arztes
In erster Instanz hatte die Patientin mit ihrem Vorbringen keinen Erfolg. Das Landgericht (LG) Stendal befand, beraten durch einen Sachverständigen, dass der HNO-Ärztin zwar ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen sei. Die Tatsache, dass der erforderliche Test erst später in einer HNO-Klinik durchgeführt worden sei, habe sich jedoch nicht negativ auf den Behandlungsverlauf ausgewirkt. Auch bei einer sofortigen Therapie hätte keine Garantie für eine Selbstheilung mit Wiederherstellung der Hörfähigkeit bestanden.
Die Patientin legte gegen die Entscheidung Berufung ein und hatte vor dem Oberlandesgericht (OLG) Naumburg in vollem Umfang Erfolg (Az. 1 U 167/22).
OLG Naumburg: 10 000 Euro Schmerzensgeld für erlittenen Hörverlust
Der Senat befand: Die Tatsache, dass die HNO-Ärztin im konkreten Fall keinerlei Hörtests durchgeführt habe, sei als Verstoß gegen den HNO-Facharztstandard zu werten, der zum Zeitpunkt der Behandlung galt. Entgegen den Feststellungen des LG sei vorliegend sogar von einem groben Befunderhebungsfehler auszugehen. Denn die von der Patientin beklagte Schwerhörigkeit habe auf eine Innenohrschwerhörigkeit bzw. einen Hörsturz hingewiesen, der akut hätte behandelt werden müssen.
Entsprechend sprach das Gericht der Patientin ein Schmerzensgeld von 10.000 Euro zu. Bei dessen Bemessung berücksichtigte es die Tatsache, dass die 67-Jahre alte Frau den Hörverlust durch ein Hörgerät gut ausgleichen kann.
Kommentar von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht:
Wenn Patienten einen
Arzt wegen eines Behandlungsfehlers verklagen, stehen sie nicht selten vor großen Beweisproblemen, weil sie dem Arzt nicht nur einen Fehler nachweisen müssen, sondern auch noch darzulegen haben, dass ihnen durch diesen Fehler ein Gesundheitsschaden entstanden ist. Geht es hingegen um einen Befunderhebungsfehler, hat dies aus Sicht des Patienten den Vorteil, dass er im Arzthaftungsverfahren nur beweisen muss, dass dieser Fehler generell geeignet war, den tatsächlich bei ihm eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. BGH, Az. VI ZR 87/10).
Wie die Aussichten in Ihrem konkreten Fall stehen, kann ein Rechtsanwalt mit genauen Kenntnissen im Arzthaftungsrecht beurteilen. Rechtsanwalt Jürgen Wahl ist
Fachanwalt für Medizinrecht und
Fachanwalt für Versicherungsrecht.
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