Erblindung eines Kindes nach Frühgeburt: So haftet der Arzt
Wenn ein Baby bereits in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt, hat es zwar gute Überlebenschancen. Dennoch bestehen nach wie vor erhebliche Gesundheitsrisiken für den Säugling, auch und gerade im Bereich der Augen. Diese verwirklichten sich auch ein einem Fall, den vor Kurzem der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden hatte.
In der konkreten Konstellation hatte eine Mutter ihren Sohn in der 25 Schwangerschaftswoche geboren. Das Kind musste die ersten drei Monate seines Lebens in der Klinik verbringen. In dieser Zeit untersuchten die Ärzte vor Ort regelmäßig die Entwicklung der Augen.
Bei der Entlassung empfahlen sie den Eltern allerdings nur, die nächste Kontrolle in drei Monaten durchführen zu lassen. Das sollte sich als fataler Fehler erweisen: Bereits fünf Wochen nach der Entlassung erlitt der Junge eine Netzhautablösung. Sein rechtes Auge ist seither vollständig erblindet. Auf dem linken Auge hat das Kind eine hochgradige Sehbehinderung davongetragen.
In dem Verfahren vor dem BGH ging es um die Frage, ob die erheblichen Beeinträchtigungen des inzwischen achtjährigen Jungen auf einen Behandlungsfehlers zurückgehen, weil die Ärzte die Kontrolluntersuchung erst drei Monate nach der Krankenhausentlassung empfohlen hatten.
Die erste Instanz, das Landgericht Oldenburg verneinte dies noch, weil es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem späten Kontrolltermin und der Netzhautablösung erkennen konnte.
Die zweite Instanz, das Oberlandesgericht Oldenburg hingegen bejahte einen Fehler der Klinikärzte, weil diese die gebotene therapeutische Sicherungsaufklärung unterlassen hätten (OLG Oldenburg, Az. 5 U 45/22).
Gegen diese Entscheidung legte die Klinik Revision zum Bundesgerichtshof ein. Hier wendete sich das Blatt erneut.
Klarstellung durch den Bundesgerichtshof
Der BGH bejahte zwar ebenfalls einen Fehler der Klinikärzte. Allerdings stützte er sich dabei auf eine andere Haftungsgrundlage als das OLG. Der Schaden des Kindes geht danach nicht auf die fehlerhafte Sicherungsaufklärung zurück, sondern direkt auf einen Befunderhebungsfehler. Die Klinikärzte hätten es sowohl pflichtwidrig unterlassen, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen, als auch die Befunderhebung durch falsche Angaben (zu späte Terminierung der Anschlusskontrollen) vereitelt.
Dazu führten die Karlsruher Richter aus, dass die Klinik bereits die Möglichkeit gehabt hätte, den gesetzlich versicherten Jungen im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung ohne Unterkunft und Verpflegung weiter zu behandeln. Da bei dem Patienten die Gefahr schwerwiegender Gesundheitsschäden bei Nichtuntersuchung bestand, hätten sie aber in jedem Fall – in Absprache mit den Eltern – frühzeitig Kontakt mit einem weiterbehandelnden Augenarzt aufnehmen und so einen rechtzeitigen Nachsorgetermin gewährleisten müssen.
Unabhängig davon habe die Klinik die Durchführung der medizinisch gebotenen augenärztlichen Abschlussuntersuchung und damit die Erhebung von Kontrollbefunden durch falsche Angaben vereitelt. Durch die Mitteilung, eine
augenärztliche Kontrolle habe (erst) in drei Monaten zu erfolgen, hat sie den – laut Berufungsgericht uneingeschränkt mitwirkungsbereiten – Eltern des Patienten die Möglichkeit einer rechtzeitigen Abklärung genommen. Diese hatten keinen Anlass, der medizinischen Empfehlung der Klinik zu misstrauen und sie anderweitig überprüfen zu lassen (BGH, Az VI ZR 108/23).
Wegen dieses Versäumnisses steht dem Jungen Schmerzensgeld und Schadenersatz zu.
Kommentar von Jürgen Wahl, Fachanwalt für Medizinrecht in Offenbach:
Ein Befunderhebungsfehler liegt immer dann vor, wenn ein Arzt es unterlässt, einen gebotenen medizinischen Befund zu erheben, also zum Beispiel eine angezeigte Untersuchung nicht durchführt. Mit der oben besprochenen Entscheidung stellt der BGH zudem klar, dass ein Befundungsfehler auch dann vorliegt, wenn der Arzt es unterlässt, die Erhebung medizinisch gebotener Befunde zu veranlassen, etwa, wenn, wie hier ein Klinikarzt, nicht genug dafür tut, eine nachstationäre Versorgung sicher zu stellen.
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Wie die Aussichten in Ihrem konkreten Fall stehen, kann ein Rechtsanwalt mit genauen Kenntnissen im Arzthaftungsrecht beurteilen. Rechtsanwalt Jürgen Wahl ist
Fachanwalt für Medizinrecht und
Fachanwalt für Versicherungsrecht.
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